Bei summarischer Prüfung begegnet die in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelte Höhe von Nachzahlungszinsen von 0,5 Prozent für jeden vollen Monat jedenfalls ab dem VZ 2015 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln (BFH, Beschluss v. 25.04.2018 – IX B 21/18; veröffentlicht am 14.05.2018).
Sachverhalt: Das FA setzte die von den Antragstellern für das Jahr 2009 zu entrichtende Einkommensteuer zunächst auf rund 160.000 € fest. Im Anschluss an eine Außenprüfung änderte das FA im November 2017 die Einkommensteuerfestsetzung auf gut 2.000.000 €. Neben der nachzuzahlenden Steuer setzte das FA für den Zeitraum vom 01.04.2015 bis 16.11.2017 Nachzahlungszinsen in Höhe von rund 241.000 € fest. Die Antragsteller begehren die AdV des Zinsbescheids, da die Höhe der Zinsen von 0,5 Prozent für jeden Monat verfassungswidrig sei. Das FA und das Finanzgericht lehnten dies ab.
Hierzu führten die Richter des BFH weiter aus:
- Dem AdV-Antrag ist stattzugeben.
- Die angegriffene Zinshöhe in § 233a AO i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO begegnet durch ihre realitätsferne Bemessung mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ergebende Übermaßverbot für den hier in Rede stehenden Zeitraum vom 01.04.2015 bis 16.11.2017 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln.
- Der gesetzlich festgelegte Zinssatz gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 AO überschreitet für den hier in Rede stehenden Zeitraum angesichts der zu dieser Zeit bereits eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität in erheblichem Maße.
- Das Niedrigzinsniveau stellt sich jedenfalls für den Streitzeitraum nicht mehr als vorübergehende, volkswirtschaftstypische Erscheinung verbunden mit den typischen zyklischen Zinsschwankungen dar, sondern ist struktureller und nachhaltiger Natur (vgl. Deutsche Bundesbank, Finanzstabilitätsbericht 2014 v. 25.11.2014, S. 8, 13, 30, 38, 39, 56, die bereits von „seit Jahren anhaltender Niedrigzinsphase“ spricht).
- Eine sachliche Rechtfertigung für die gesetzliche Zinshöhe besteht bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht. Auf Grund der auf moderner Datenverarbeitungstechnik gestützten Automation in der Steuerverwaltung können Erwägungen wie Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung einer Anpassung der seit dem Jahr 1961 unveränderten Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz i.S. des § 247 BGB nicht mehr entgegenstehen.
- Für die Höhe des Zinssatzes fehlt es an einer Begründung: Der Sinn und Zweck der Verzinsungspflicht besteht darin, den Nutzungsvorteil wenigstens zum Teil abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige dadurch erhält, dass er während der Dauer der Nichtentrichtung über eine Geldsumme verfügen kann.
- Dieses Ziel ist wegen des strukturellen Niedrigzinsniveaus im typischen Fall für den Streitzeitraum nicht erreichbar und trägt damit die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe nicht.
- Darüber hinaus bestehen bei der gebotenen summarischen Prüfung schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel, ob der Zinssatz dem aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Übermaßverbot entspricht.
- Die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe wirkt in Zeiten eines strukturellen Niedrigzinsniveaus wie ein rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung.
- Der Gesetzgeber ist im Übrigen von Verfassungs wegen gehalten zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung zu der in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelten gesetzlichen Höhe von Nachzahlungszinsen auch bei dauerhafter Verfestigung des Niedrigzinsniveaus aufrechtzuerhalten ist oder die Zinshöhe herabgesetzt werden muss. Dies hat er selbst auch erkannt, gleichwohl bis heute nichts getan, obwohl er vergleichbare Zinsregelungen in der AO und im HGB dahin gehend geändert hat.
Quelle: BFH, Beschluss v. 25.04.2018 – IX B 21/18